Michael Köhlmeier: Wir – Über die Sprengkraft eines kleinen Wortes

Unruhe bewahren: Frühjahrsvorlesung der Akademie Graz. 24. & 25.4., je 19 Uhr

24.04.2019 - 25.04.2019
19:00 - 21:00
Literaturhaus Graz
[0063] Literaturhaus, Elisabethstraße 30
Kostenpflichtig

Mittwoch, 24.4. 19 Uhr: Teil 1;

Donnerstag, 25.4. 19 Uhr, Teil 2

 

WER, WENN NICHT WIR

Kaum ein Wort lässt sich finden, dessen Bedeutung und Anwendung weniger eint, als das kleine Wörtchen Wir. Einmal tut es wohl, weil es dem einsamen Ich eine Heimat bietet und eine Ahnung auftreibt, woher es kommt, und eine Beruhigung bietet, die darin besteht, nicht für alles verantwortlich zu sein, die guten Taten als sicheres Geschenk, die bösen Taten als Veranlagung zu sehen, gegen die ein Ich nur schwer ankann. In der anderen Lesart wird das Wir zu Uniform, die man ablegen oder anlegen kann, je nachdem die Stimmung auf Freund oder Feind eingestellt ist. Dieses Wir ist immer ein zeitlich begrenztes und in seiner Stoßrichtung variables Wir, jeder kann sein Freund und Kampfgenosse werden, jeder sein Feind. Es ist ein aktuelles Wir. Es macht uns zu Zeitgenossen und zu Opportunisten, zu Rechthabern und Nicht-Rechthabern. In das erste Wir kann integriert werden. Es ist dem Ich nahe, es erzählt Geschichten. Geschichten berichten immer von anderen, auch wenn das Ich oder das Wir im Mittelpunkt steht. Das zweite Wir, das militärische, erzählt keine Geschichten, es erzählt Geschichte, es erzeugt Mythen, die keine andere Funktion haben, als Ideologie zu sanktionieren.

Über die Sprengkraft eines kleinen Wortes – wie wird aus intimster Familiengeschichte eine öffentliche Verpflichtung, ein Eid, die Begeisterung, für etwas zu sterben und für etwas zu töten, das niemand je gesehen hat, das nicht zur Familie gehört, über das sich keine Geschichten erzählen lassen? (Michael Köhlmeier)

 

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen u.a. die Romane Zwei Herren am Strand (2014), Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016) und Der Mann, der Verlorenes wiederfindet, sowie der Gedichtband Ein Vorbild für die Tiere (2017), zuletzt Bruder und Schwester Lenobel (Hanser 2018).

 

Die Frühlings- und Herbstvorlesungen der Akademie Graz finden jedes Jahr zum Frühlingsbeginn und im November in Form von zwei Abendvorlesungen statt. Die Essayreihe „Unruhe bewahren“ wird seit 2009 im Residenz-Verlag publiziert.