Michael Köhlmeier liest aus „Abendland“ (2007)

Vortrag: Carsten Otte. Anschließend Gespräch mit Klaus Kastberger

Das Werk des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier ist so umfangreich wie vielschichtig. Darin spielen zeithistorische Analysen eine genauso große Rolle wie die Märchen, die in einem zeitlosen Raum zu spielen scheinen, aber doch Auskunft geben über das allzu menschliche Hier und Jetzt. Köhlmeier vermag vertrackte Liebesdramen und schlimme Familienzusammenbrüche zu erzählen, er hat elegante Exkurse über die Schönheit der Literatur und die Hässlichkeit der Politik geschrieben, und in diesem nahezu schillernd klugen Oeuvre nimmt sein fast 800 Seiten umfassender Roman „Abendland“ einen zentralen Platz ein. In diesem Prosawerk scheinen die großen Themen und wichtigen Figuren des 1949 in Hard am Bodensee geborenen und auch heute in Vorarlberg lebenden Homme de lettres aufgehoben zu sein: Sebastian Lukasser, Köhlmeiers Alter Ego, erzählt die Lebensgeschichte des exzentrischen Mathematikers, Weltbürgers und Jazzfans Carl Jacob Candoris. Es entsteht nicht nur ein Panorama des 20. Jahrhunderts, sondern auch das Psychogramm einer berührenden Freundschaft. Köhlmeier berichtet von den erstaunlichen Zufälle in der Geschichte, den Ungerechtigkeiten in den Lebensläufen von der Lust an der Liebe genauso wie am Betrug, es geht um die Frage, wie heimatliche Prägung und geistige Emanzipation sich bedingen, wie alles mit allem zusammenhängt bzw. die für den Literaten noch viel gravierendere Herausforderung, wie sich all das Zersplitterte der Welt zusammenhängend und sinnhaft erzählen lässt. In „Abendland“ zeigt Köhlmeier, dass im Rückblick auf unsere Vergangenheit, mag sie noch so brüchig und blutig sein, doch eine Essenz des Humanen, eine abendländische Moral der Demut gegenüber dem Leben herauszulesen ist. Insofern ist dieser Roman wahrhaft ein Grundbuch der österreichischen Literatur. (Carsten Otte)

In Kooperation mit Alte Schmiede Wien und StifterHaus Linz.