Konflikte übersetzen – Von Gezi zu Boğaziçi

Bilgin Ayata (Universität Graz) und Zeynep Erk Emeksiz (Academics for Peace, Philipp Schwartz Stipendiatin, Universität Mainz) im Gespräch mit Şebnem Bahadır und Sevil Celik Tsonev (beide Universität Graz)

Alle drei Ereignisse, die Gezi-Bewegung, die Academics for Peace und der Boğaziçi Widerstand, sind in komplexe politische, gesellschaftliche, historische und biographische Zusammenhänge eingebettet. Sie verweisen auf Transformationen/Translationen von Diskursen in diversen Momenten des zivilen Widerstands und verdeutlichen die Pendelbewegung zwischen zivilgesellschaftlicher Politisierung und staatlich forcierter Entpolitisierung des öffentlichen Lebens. Das mehrsprachige Gespräch (Englisch-Deutsch-Türkisch) an diesem Abend stellt einen Versuch dar, diese Komplexität anhand von konkreten Beispielen und Ereignissen zu umreißen. Es soll gezeigt werden, wie diese drei Momente im Kontext von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor 2013 gelesen werden müssen. Bilgin Ayata wird in ihrem Impulsbeitrag auf die Verortung der Gezi-Bewegung in einer bestimmten politischen und affektiven Kultur in der Türkei eingehen. Zeynep Erk Emeksiz wird über Beispiele für den konstruktiven Umgang einiger Academics for Peace angesichts ihres Berufsverbots und ihrer politisch wie auch wissenschaftlich prekären Situation berichten (z. B. über unabhängige Friedens- und Solidaritätsakademien). Der Widerstand an der Boğaziçi Universität wird den Rahmen für die zwei Impulsbeiträge und das Gespräch zwischen den Referentinnen und den Moderatorinnen darstellen.

Hintergrund

Am Abend des 28. Mai 2013 beginnt am Taksim Platz im Zentrum von Istanbul eine für die Türkei völlig neue Protestbewegung gegen ein Bauprojekt der Regierung auf dem Gelände des Gezi Parks. Der Park wird zum Symbol monatelanger und landesweiter zivilgesellschaftlicher Proteste gegen repressive Regierungspolitik und gegen unverhältnismäßigen Gewalteinsatz durch die Sicherheitskräfte. Die Protestbewegung eint für kurze Zeit unterschiedliche Gesellschaftsschichten, Ethnien und politische Fraktionen. Besonders die jungen, bisher unpolitischen Menschen erheben sich. Auch die transnationale Diaspora der Türkeistämmigen beteiligt sich an vielen Aktionen. Allerdings kann die Gezi-Bewegung keine Transformation der Machtverhältnisse in der Türkei herbeiführen. Die Politisierung des öffentlichen Lebens nimmt ab. Die Repressionen nehmen zu, besonders und immer wieder gegen die kurdische Bevölkerung im Osten. 2016 erschüttert ein weiterer Bruch das öffentliche Leben in der Türkei: 1127 Wissenschaftler*innen in und außerhalb der Türkei unterzeichnen am 11. Januar 2016 einen Friedensappell, der die Regierung dazu aufruft, die Massaker an der kurdischen Bevölkerung zu stoppen und den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen. Die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ wird in den folgenden Tagen von weiteren Tausend Wissenschaftler*innen unterschrieben. Viele der ‚Academics for Peace‘ werden daraufhin per Staatsdekret entlassen, verfolgt, verklagt, inhaftiert und zu Terrorist*innen erklärt. Einige dürfen das Land nicht verlassen. Anderen wird die Einreise in die Türkei verwehrt. Seither werden die Repressionen an den Universitäten und der Braindrain von Wissenschaftler*innen ins Ausland immer größer. Am 4. Januar 2021 wird an der renommierten aber bisher politisch kaum ‚auffälligen‘ Boğaziçi Universität per Staatsdekret, durch den Staatspräsidenten Erdoğan persönlich, als eine Art Zwangsverwalter, ein Rektor eingesetzt. Unverzüglich beginnen Studierende und Dozierende eine Protestbewegung. Immer wieder gehen die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen die protestierenden Studierenden vor. Es kommt wiederholt zu Verhaftungen. Aber der Widerstand bricht nicht ab: Immer noch kehren Dozierende und Studierende jeden Tag dem Rektoratsgebäude ihre Rücken zu, um zu zeigen, dass sie den Zwangsverwalterrektor nicht akzeptieren und nicht aufgeben. Viele Universitäten im Ausland haben Solidaritätsbekundungen veröffentlicht. Absolvent*innen der Universität haben sich im In- und Ausland organisiert und unterstützen den Widerstand auf vielfältige Weise.

Bilgin Ayata ist Professorin am Zentrum für Südosteuropastudien an der Universität Graz. Sie publizierte umfassend u. a. über Zwangsmigration, Transnationalismus und urbanen Protest.

Zeynep Erk Emeksiz spezialisierte sich als Linguistin auf Semantik und literarische Texttheorien und lehrt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist Mitbegründerin der Eskişehir Solidarity Academy.

Şebnem Bahadır ist als Professorin mit dem Schwerpunkt „Translation, Migration und Minderheiten“ am Institut für Translationswissenschaft der Universität Graz tätig.

Sevil Celik Tsonev ist Koordinatorin des Türkisch-Fachbereichs am Institut für Translationswissenschaft der Universität Graz.

Konflikte übersetzen ist eine Gesprächsreihe des Instituts für Translationswissenschaft organisiert und konzipiert von Rafael Schögler gemeinsam mit Bassem Asker, Şebnem Bahadır, Edina Dragaschnig, Sevil Celik Tsonev und Susanna Yeghoyan. Studentische Mitarbeiterin: Elena Kogler